Die Debatte um kulturelle Aneignung („cultural appropriation“) hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu einer paradoxen Situation geführt: Im Namen des Schutzes marginalisierter Kulturen werden nationale und ethnische Grenzen re-essentialisiert – und spiegeln so jene kolonialen Strukturen wider, die durch die Kritik eigentlich überwunden werden sollen. Ein Kunstwerk, das zum Beispiel Zulu-Klicklaute mit AAVE-Rhythmen verbindet und Soweto und die Bronx dialektisch verschränkt, gerät schnell unter Verdacht. Und zwar nicht, weil seine Methodik notwendig ausbeuterisch wäre, sondern weil dadurch die Fiktion nationaler und ethnischer Autarkie bedroht wird.
Dieses Essay argumentiert, dass genau diese Form der Kritik eine falsche Dichotomie wiedereinführt: Entweder liegt „authentische/reine“ Kulturangehörigkeit vor oder imperialistische Aneignung (Extraction). Doch es gibt ein drittes Modell, das längst in künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken gelebt wird, in der Theorie jedoch zu wenig herausgearbeitet ist: Remix-Kultur als emanzipatorische Praxis. Nicht als moralisch reine Alternative, sondern als bewusst transparente, anti-proprietäre, transnational solidarische Auseinandersetzung mit gemeinsamem kulturellem Material.
Dabei geht es nicht darum – wie oft missverstanden – dass „alles erlaubt ist, solange man ehrlich ist“. Das ist verkürzt. Es fordert vielmehr eine kritische Unterscheidung ein zwischen strukturellem Raub (corporate extraction) und experimentellem Engagement (Remix), zwischen Gatekeeper-Logik (Besitz, Proprietät) und Open-Source-Denke (Commons). Und vor allem: zwischen der Leugnung von Machtasymmetrien und deren expliziter, selbstkritischer Akzeptanz.
DADA war primär keine Kunstbewegung, sondern eine Verweigerungshaltung. Es ging um die Negation von Sinn, von Schönheit – und vor allem: von Authentizität. Tristan Tzara schrieb im DADA-Manifest: „Der Künstler stiehlt. Aber er versteckt es nicht. Er macht den Diebstahl sichtbar.“ Das ist keine Entschuldigung für Aneignung – sondern ihre bewusste Theoretisierung und Sichtbarmachung.
Duchamp hat der Mona Lisa keinen Schnurrbart gemalt, um sie zu ehren, sondern um den Begriff von „Aura“, künstlerischer Reinheit und Geniestatus radikal zu dezentralisieren. Readymades – wie das berühmte Urinal – sagen: Material ist Material. Kontext ist alles. Bedeutung entsteht durch Umplatzierung, nicht durch Ursprünglichkeit.
Und doch: DADA ist nicht naiv. Die Bewegung war sehr wohl kritisch gegenüber Machtstrukturen; sie glaubte nur nicht daran, dass diese durch „reine“ Moral überwindbar wären. Die Waffe der DADAisten war die Sichtbarmachung von Macht, ihre Verkehrung und Absurdifizierung.
Was DADA auf Konzept-Ebene entwarf, wurde im Hip Hop praktisch angewandt. „Sampling“ – das Verwenden von Soundfragmenten aus bestehenden Aufnahmen – ist kein banaler Diebstahl, sondern eine Form des Wissens, eine epistemologische Praxis.
Wenn DJ Premier einen James-Brown-Break nimmt und in neuen Kontext setzt, sagt er nicht: „Das ist jetzt meins.“ Er zeigt: „Das gibt es schon, aber ich zeige dir, was es in diesem Kontext bedeutet.“ Die Herkunft bleibt hörbar – James Brown bleibt präsent, wird nicht ausgelöscht. Doch zugleich entsteht eine völlig neue Bedeutung, die über das Original hinausgeht.
Tricia Rose beschreibt in „Black Noise“ Hip-Hop als Epistemologie der Nekromantie – des Rufens der Toten, nicht ihrer Auslöschung. Ausgeschlossen von offiziellen Kanälen, macht Hip-Hop Kunst aus Ruinen. Und diese „Ruinen“ – die verworfenen Breaks, B-Seiten, marginalen Momente – werden zu Rohstoffen neuer Produktion. Das ist keine „Gratiskultur“, sondern Wiederaneignung als Befreiungspraxis.
Édouard Glissant argumentiert in seiner „Poetik der Relation“ ontologisch, nicht moralisch: „Reine“ Kulturen gibt es nicht und hat es nie gegeben. Das Projekt, Kultur zu „bewahren“, fußt auf einem Missverständnis von Kulturalität. Kulturen sind keine Bäume (mit Wurzeln und Stamm), sondern wie Rhizome (Deleuze/Guattari) – Netzwerke ohne Zentrum, Verzweigungen ohne Hierarchie.
Das macht jede nationalistische Logik unmöglich: Es gibt keine „echte deutsche“ oder „echte Zulu-Kultur“, sondern stets hybride, durchlässige, bereits kontaktierte Komplexionen.
Folglich sind künstlerische Praktiken, die diese Komplexion offenlegen, näher an der Realität als solche, die ethnische Essenzen behaupten.
Mbembe und Mignolo wenden sich gegen die westliche Idee von „kulturellem Eigentum“: Geistiges Eigentum, Copyright, Autorschaft, „Besitz“ von Text, Melodie, Konzept. Diese kommt nicht aus einer universellen Kulturpraxis, sondern ist ein Produkt des westlichen Kapitalismus und wurde durch Kolonialregime global installiert.
Sogar die Forderung nach „ethnischer Authentizität“ – angeblich zum Schutz marginalisierter Gruppen – ist paradox: Sie stammt aus westlicher Importideologie und ist internalisiert worden.
Mignolos Konzept des „Delinking“ meint: Abkehr von der westlichen Eigentumslogik, nicht Rückkehr zu mythischer Authentizität (das wäre selbst Kolonialisierung), sondern Erfindung neuer Ordnungen wie Open Source, Commons, Sharing. Remix-Kultur ist damit nicht Ethik, sondern konkret postkoloniale Praxis.
Konservative Appropriation-Kritik denkt Kultur nach dem Vorbild ökonomischer Knappheit – als etwas, das weniger wird, wenn es geteilt wird. Der Gedanke: Wer mein Material nutzt, nimmt mir etwas.
Das ist ökonomisch falsch. Einen Song zu teilen, heißt ihn zu vervielfachen, nicht ihn zu verlieren. Die Ökonomie des Immaterialen ist grundsätzlich anders als die der Dinge. Ein Auto kann nur einen Besitzer haben; ein Song Millionen.
Lawrence Lessig zeigt in „The Future of Ideas“, wie die westlichen Gesetze künstliche Knappheit auf Kultur übertragen, wo in Wahrheit natürliches Übermaß herrscht. Einschränkung durch Copyright und digitale Kontrolle erst erzeugt Knappheit – von Natur aus ist Kultur aber ein Überfluss.
Hip-Hop demonstriert diese praktische Gegenposition: Kultur ist da, Musik ist überall. Die Remixierung überschreibt das Original nicht – sie erzeugt neue Bedeutungsebenen.
Wichtig ist, dass dieser kulturelle Überfluss über einer tiefen materiellen Knappheit liegt. Kulturelles Material ist theoretisch unbegrenzt, aber Zugang zu Ressourcen – Studiozeit, Plattformen, Verbreitungsmöglichkeiten, Finanzierung – bleibt real eingeschränkt und sehr ungleich verteilt.
Das heißt: Auch wenn Remix-Kultur grundsätzlich auf Abundanz basiert, muss immer auch thematisiert werden, wer wirklich Zugang zu Infrastruktur hat – Server, Bandbreite, Distributionsmacht. Während im globalen Norden YouTuber:innen mit stabiler Infrastruktur arbeiten, fehlen diese Möglichkeiten im globalen Süden. Kulturüberfluss bedeutet also noch lange keine wirtschaftliche Gleichheit.
Daher gilt: Notwendig sind Cultural Remix und strukturelle Umverteilung.
Es ist entscheidend, zwei Vorgehensweisen voneinander zu unterscheiden:
Extraction bedeutet: Marginalisierte kulturelle Ressourcen werden genommen, zur Profitmaximierung verwendet, ihre Herkunft wird verschleiert, Authentizitäts- oder Originalitätsanspruch erhoben und eine Gatekeeper-Logik etabliert („Das gehört mir jetzt“).
Typische Beispiele sind etwa Algorithmen, die Streams kleiner Artists entziehen, oder Plattformen, die Schwarze Kultur kommerzialisieren, ohne Schwarze Creators daran zu beteiligen.
Kern von Extraction ist die strukturelle Ausbeutung – nicht der Gebrauch von Material an sich.
Engagement meint: Material wird verwendet, Herkunft sichtbar gemacht, bewusste Veränderung zugelassen, keine Authentizitätsbehauptung, sondern Anti-Proprietät betont („Das gehört allen“).
Beispiel: DJ Premier sampled James Brown – und James Brown bleibt im Sample hörbar. Oder die erklärte Nutzung von Zulu-Klicklauten als DADA-Prinzip, nicht als „authentische“ Zulu-Musik.
Was verbindet: Methodologische Transparenz. Machtasymmetrien werden nicht geleugnet, sondern explizit reflektiert.
Die restriktive Maximalposition vieler Appropriation-Kritiker:innen – „Benutze nur, was aus deiner eigenen Kultur stammt!“ – ist paradox. Denn das Re-Territorialisieren von Kultur ist genau die koloniale Logik, die koloniale Herrschaft strukturiert hat: Einteilen in „deutsche“, „Zulu-“, „englische“ Kultur.
Wenn progressive Kritik nun fordert, auf „der eigenen Scholle“ zu bleiben, dann reproduziert sie jene kolonialen Grenzziehungen, die überwunden werden sollten. Und: Wenn westliche Künstler:innen dank Infrastruktur weltweit agieren, andere aber lokal bleiben müssen, wird globale Ungleichheit weiter zementiert.
Es geht nicht darum, Authentizität zu behaupten (unmöglich unter Kapitalismus). Ethisch ist, offen zu legen, was man tut:
Schlussendlich ist niemand „rein“: Unter globalem Kapitalismus sind alle in Macht-Asymmetrien verstrickt. Es geht nicht um Freisprechung, sondern um strukturelle Ehrlichkeit.
Plattformen sollte man stets kritisch reflektieren und dennoch offensiv nutzen. Das ist kein moralisches Scheitern, sondern kulturelle Praxis, Kulturtechnik die ethischen überlegungen Rechnung trägt.